Unterhalten sich ein Kirchturm und ein Minarett. Sagt der Kirchturm:
"Wenn ich meine Glocken läute, dann rufe ich die Menschen auf, die
Wahrheit zu hören." Sagt das Minarett: "Wenn der Muezzin von meiner
Empore ruft, dann tut er dasselbe." Meint der Kirchturm: "Dann
könnten wir uns doch eigentlich zusammen tun." Und das Minarett darauf:
"Das wäre gut, dann hätte ich endlich auch eine Uhr."
Nicht nur Moscheen haben ihre Türme (Minarett), sondern seit dem
6. Jahrhundert (Italien) auch die christlichen Kirchen. Zunächst waren es
vereinzelt freistehende Glockentürme. Es gibt für Kirchtürme KEINE theologische
Begründung. Die christlichen Baumeister ließen sich jedoch von den
mesopotamischen Zikkurats (Turmbau zu Babel) inspirieren, wobei es um die Idee
des himmelhohen Turms ging. Die Mythologie sagt: Ein Turm verbindet die Erde
mit dem Himmel, er ist ein Stein gewordener Heiliger Lebensbaum. Mit dem
Turmbau versuchen Menschen, dem Himmel möglichst nahe zu kommen.
Der Kirchturm hatte aber nicht nur die Funktion des Glockenturms.
Besonders in den Deutschen und Niederländischen Pfarrkirchen der Spätgotik
wurde der Turm zum Symbol kommunalen Ehrgeizes, bei dem die profane Ruhmsucht
sich mit dem Gotteslob verbindet, bis hin zu doppel-türmigen Kirchen in der
Zeit des Barocks in Süddeutschland (Zwiefalten), oder am Rhein (Köln). Dass der
Kirchenturm als repräsentatives Symbol von Macht und Größe kritisch
wahrgenommen wird, zeigt sich darin, dass die auf Demut und Bescheidenheit
zielenden Orden der Zisterzienser, Dominikaner und Franziskaner ein Verbot von
Kirchtürmen für ihre Klöster erließen. Mit der Neogotik wurden Türme wieder zu
herausragenden, städtebaulich wirksamen Symbolbauten der christlichen
Gesellschaft, die zunehmend in Konkurrenz mit profanen Hochbauten für Industrie
und Wirtschaft traten. Turmvollendungen gotischer Kathedralen, wie Kölner Dom
und Ulmer Münster, führten zu einer Kirchturmblüte.
Der Kirchturm als solcher entwickelte sich erst richtig in
romanischer Zeit, als mit der Rekonquista (Zurückeroberung muslimisch besetzter
Gebiete in Spanien und Portugal) und den Kreuzzügen der Baukörper des Minaretts
in die Kirchenarchitektur aufgenommen wurde. Im Grunde ist der christliche
Kirchturm nichts anderes, als die Antwort auf das muslimische Minarett.
Während in einigen Religionen
der Turm offensichtlich als Symbol für den männlichen Penis verwendet
wird, wie etwa als Lingam im Buddhismus, wehren sich Christen und Muslime gegen
diese Interpretation. Vielmehr ginge es bei Minarett und Kirchturm um das
"höher, zu Gott" und dem akustischen Vorteil für Glocken und dem ruf
des Muezzin. Seit Sigmund Freud ist es in Mode gekommen, den Turm als
Phallussymbol zu erkennen. Er wird seitdem mit männlichen
Eigenschaften verknüpft und steht für Schutz, Mut, Machbarkeit, Machtanspruch
aber auch Größenwahn und Technikherrlichkeit (siehe die Wolkenkratzer).
Günter Walraff sagte: "Ein in den Himmel ragender Kirchturm
signalisiert doch auch einen Anspruch. Moscheen mit Kuppel wirken ohne Minarett
auf mich bedrohlicher als mit, weil sie mich immer an Atommeiler erinnern. Da
ist mir das Minarett deutlich lieber. Und wenn die Muslime meinen, auch sie
bräuchten ihr steinernes Phallus-Symbol - sollen sie es doch haben! Über
Penisneid können sich die Minarett-Gegner ja dann gerne bei Sigmund Freud
schlau machen. Dieses Hin und
Her um die Minarette ist ohnehin die völlig falsche Diskussion. Was in den
Moscheen gepredigt wird. Darum geht es."
Der derzeitiger Stand: Das Ulmer Münster wurde 1890 gebaut und hat
mit dem 161,53 m hohen Turm den höchste Kirchturm der Welt. Das mit 210 Metern höchste Minarett der
Welt befindet sich in Casablanca als Bestandteil der Hassan-II.-Moschee. Mit einer Höhe von 127 Metern soll Phra
Pathom Chedi in Thailand der höchste Stupa der Welt sein. In Polen steht seit
2010 die größte Christus-Statue der Welt: sie ist mit 36 Metern höher als das
bekannte Vorbild in Rio de Janeiro. Split (Kroatien) plant diese mit einer 39
Meter hohen Statue zu übertrumpfen.
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