Ravensburger Spectrum
Ecce homo 2.0
Von Stefan Weinert
Es war C.G. Jung (1875 bis 1961), der auf den Widerspruch zwischen dem patriarchalischen Ideal der Vollkommenheit und dem matriarchalischen Wunschgedanken der Vollständigkeit hinwies. Die Frage für uns muss immer sein, ob wir in unserem Gesundheits- und Sozialsystem mit den nach Hilfe suchenden Menschen nur nach „Recht und Ordnung“, also mit „väterlicher“ Strenge verfahren, oder ob es auch noch Raum und Geld für Verständnis, Interesse und „mütterliche“ Güte gibt. Es sollte daher in erster Linie dem Hilfe Suchenden gegenüber nicht heißen, „Mit welchen Gesetzen stimmst du überein, gegen welche Verordnungen hast du verstoßen, und wie passt du überhaupt in den Kontext (Ziel und Zweck) unseres Systems?“ Sondern die ersten Fragen diesem Mitmenschen gegenüber sollten sein: „Was bist du für ein Mensch? Was geht in dir vor sich? Woran leidest du am meisten?“
Es darf eben nicht nur darum gehen, ob sich der Mensch für unsere Gesellschaft rechnet, sondern ob die Gesellschaft auf den momentan im Abseits stehenden Menschen zählt. Fakt und Realität ist, dass wir in einer Welt leben, in der der Mensch mehr und mehr als „Anwendungsfall für Gesetze“ (Drewermann) reduziert wird, als Verschiebematerial für Manager fungiert, oder einfach nur noch als Objekt der Begierde der Geschäftswelt gesehen wird. Die Natur kennt keine Gnade vor dem Individuum. In ihr überlebt nur der/das „Fitteste“ und vor allem der/das Angepasste (Darwin).
Genauso aber ist es in unserer modernen Gesellschaft, weil wir leider vermehrt vergessen haben und/oder ausblenden, dass wir als Menschen (homo sapiens sapiens) nicht zur Fauna und Flora gehören, die kein „Gewissen“ kennen, sondern nur von „Überlebensinstinkten“ gelenkt werden. „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will,“ hatte einst Albert Schweizer (1875 bis 1965) gesagt – und er hat „vorgelebt“, wie das für jeden Menschen möglich sein kann.
Von daher wäre es wünschenswert, wenn in all denen Arbeitsfeldern, wo es um den direkten und helfenden Kontakt zum und mit dem Menschen geht – Arzt, Pfleger, Lehrer, Pfarrer, Sozialarbeiter, Bewährungshelfer, Jobcenter, Krankenkasse, rechtlicher Betreuer, Therapeut - diese Philosophie, dieses Menschenbild eine Selbstverständlichkeit ist. Nun mag der eine oder andere behaupten, das Dinge wie emotionale Kompetenz und Intelligenz, soziale Kompetenz und Intelligenz, sprich Emphathie (die weit über die Sympathie hinausgeht) aufgrund der eigenen Vita und damit dem eigenen „Inner working model“ nicht jedem gegeben sind. Denn gerade diese Dinge sind die Prämissen für dieses Menschenbild. Diese Annahme ist ernst zu nehmen und zunächst einmal auch zutreffend.
Vom „inner working model" spricht man in Bezug auf die individuellen
frühen Bindungserfahrungen und die
daraus abgeleiteten Erwartungen, die ein Kind und später der Erwachsene gegenüber
menschlichen Beziehungen hegt. Sie dienen dazu, das Verhalten der
Bindungsperson zu interpretieren. Nach
der Entwicklung im ersten Lebensjahr gegenüber der Mutter, wird das "inner
working model" zunehmend stabiler und entwickelt sich letztlich zu einem Bindungsschema. Wesentlich ist, zu bedenken, dass die sich entwickelnden
Bindungstypen aus der Eltern-Kind-Beziehung hervorgehen und
somit auch später eine zwischenmenschliche Qualität spiegeln, in die das
Verhalten beider Seiten einfließt. Dabei ist für die spätere Bindungsqualität
die Feinfühligkeit
(= der Situation angemessenes umgehendes Reagieren) entscheidend.
Das „inner working model“ ist nicht unbedingt als Spiegelbild des Temperaments
oder Charakters des Einzelnen zu sehen, sondern primär als Ausdruck
der in der Vergangenheit erlebten zwischenmenschlichen wechselseitigen
Verhaltens des „Ich“ und den
Bezugspersonen, und überhaupt für jede Art der Wechselwirkung oder
wechselseitigen Bedingtheit im sozialen
Kontext. Das „inner working model“ eines
Menschen ist nicht von vornherein für alle Zeiten determiniert, sondern kann
sich im Laufe der persönlichen Vita – wenn man denn lernbereit und kritikfähig
ist und sich nicht nur mit „Seinesgleichen“ umgibt – verändern. Wichtig dabei
ist, dass der Einzelne die Herausforderungen des Lebens annimmt und /oder diese
gerade auch sucht.
Unser Gesellschafts- und Sozialsystem kennt viele helfende
Einrichtungen, durch die dem Hilfe Suchenden zwar formell und meist auch nur punktuell die ihm
zustehende Unterstützung gegeben wird und auch aus rechtlichen Gründen gegeben
werden muss, doch das wirkliche Interesse an der Person, die hinter dem Problem
steht, fehlt oder darf aus Zeitgründen oder Gründen der
„Unternehmens/Behörden-Philosophie“ keine Rolle spielen. Die Gleichgültigkeit in mancher Amtsstube ist groß und es gibt
Mitarbeiter*innen in Einrichtungen, die ihr Klientel unsensibel abspeisen, ihr
nicht richtig zuhören und deshalb auch unangemessen handeln. Abgesehen davon,
wird überwiegend separiert gearbeitet,
so dass die eine Stelle – selbst im eigenen Haus – nicht weiß, was die andere
in Bezug auf ein und denselben Klienten
getan hat, bzw. gedenkt zu tun.
Zu diesem Thema passend, sagte einst Sigmund Freud, „dass die Gesellschaft dem Menschen
von Außen Regeln aufzwingen musste, um die Wogen des Gefühlsüberschwanges zu
bändigen, die Innen allzu ungehemmt aufwallen.“ Und in der Tat, wer Gefühle
zulässt, sie auf sich wirken lässt, sie erwidert oder gar in seine
Entscheidungen mit einbezieht, kann natürlich nicht mehr sachlich und nach (vor
allem deutschen) Recht und Ordnung
entscheiden.
Mag sich auch unser Erdklima für alle spürbar erwärmen und mögen die Polarkappen mehr und mehr abschmelzen – in unserer „sozialen“ Gesellschaft gehen wir einer Eiszeit entgegen. Ich rede von der Kälte und Lieblosigkeit, mit denen so mancher Hilfe Suchende in den Büros (Lesen, Schreiben, Rechnen) und Wartezonen bedacht wird, wo er nur als Objekt, Kostenfaktor, Nummer und Fall behandelt wird, nicht aber als Subjekt, das leidet, fühlt, hofft, Wünsche und Bedürfnisse hat und in dem einmalige Möglichkeiten liegen, wenn sie denn nur wach gerufen würden. Der Mond, der Erdtrabant, der sich vor Milliarden von Jahren von ihr abgelöst hat, und sich jährlich weiterhin um exakt 3,8 Zentimeter von ihr, dem noch blauen Planeten entfernt, führt uns Monat für Monat, Jahr für Jahr vor Augen, worauf die Erde zusteuert: auf etwas Totes, Kaltes und Lebloses. Und das gilt nicht nur zeitgeschichtlich und astronomisch gerechnet in Lichtjahren, sondern auch im übertragenen Sinne gesellschaftlich, gerechnet in Dekaden.
(Aus: „Handbuch Case Management - ein Plädoyer für das perspektivische Case Management“, Stefan Weinert, 2009 ©)
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