22./23. Januar 2021
RaSp / CPH / Yuris
"Statt politischer Demonstrationen wird der öffentliche Raum heute von Verkehr und Konsum eingenommen. Immer weniger Menschen „gehen auf die Straße", wobei der sprachliche Ausdruck alleine schon zeigt, wofür die Straße einmal stand: für politischen Widerstand und Protest." *)
Deshalb ist öffentlicher Raum „immer auch umkämpfter Raum, in dem wechselnde Kräfte und Gruppen ihre jeweiligen Hegemonialansprüche durchzusetzen und auch symbolisch zum Ausdruck zu bringen" versuchen (Bernhardt et al. 2005: 240). Dabei wird er zur „Bühne für den offenen Kampf um Legitimation." *)
Wem gehört eigentlich die Stadt (polis) in der ich lebe? Wer ist Eigentümer, wer ist Besitzer? Wem gehören die Bäume im so genannten "öffentlichen Raum"? Darf mensch einfach so ungestraft einen Baum besetzen, um gegen Umweltsünden der "Stadt" (?) zu demonstrieren? Darf die "Stadt" (?) einfach die nicht ungefährliche 5G-Mobilfunktechnik implementieren? Und wie sieht es mit den Corona-Maßnahmen aus? ... ... ...
Solche und ähnliche Fragen taten sich uns auf, sei dem vor allem (12.12.2020) junge Aktivistinnen in Ravensburg Bäume mit dem Bau eines Baumhauses "beschlagnahmt" haben, um auf die Ökolücken ihrer Stadt hinzuweisen. Und wir haben ordentlich recherchiert, um der Sache auf den Grund zu gehen. Aber auch in Sachen "Implementierung von 5G" und "Corona" ist der folgende Aufsatz lesenswert.
Als ersten bringen wir den öffentlich zugänglichen Auszug aus einer Bachelorarbeit von Lea Thin. Weitere Beiträge folgen. (hoch spannend!!) - Siehe hier, Quelle
*) Bachelorarbeit, 2013 - 43 Seiten - L T - LEA THIN (AUTOR)
Öffentlicher Auszug
1. Wem gehört die Stadt? Eine oft
gestellte Frage
Sucht man bei Google nach „Wem gehört die Stadt" stößt man
auf über drei Millionen Suchergebnisse. Darunter befindet sich unter anderem
die Sonderausstellung des Münchner Stadtmuseums von Februar bis September 2013.
Diese zeigt soziale Bewegungen im München der 1970er Jahre für einen
kollektiven urbanen Lebensraum als Experimentierfeld neuartiger
gesellschaftlicher Organisationsformen. Im Vordergrund stehen dabei die
Forderungen nach Mit- und Selbstbestimmung an der Entwicklung der Stadt.1 Auch heute noch spielt
dieses Thema eine große Rolle, so fand im März 2013 in Düsseldorf ein Kongress
unter dem Motto „wem gehört die Stadt?" statt. Wissenschaftler_Innen,
Aktivist_Innen und Betroffene diskutierten in diesem Rahmen über die
unterschiedlichen Auswirkungen der Gentrifizierung und arbeiteten
Lösungsansätze zu einer stärkeren Mitbestimmung der lokalen Bevölkerung an
Stadtentwicklungsfragen aus. Im Fokus standen dabei neben Verdrängung und
steigenden Mieten auch teure, unökonomische Großprojekte.2 Ebenfalls im März diesen
Jahres feierte der Filmessay „The wounded brick" Premiere in Berlin. Zwei
Filmemacher aus Wien suchen darin Antworten auf die Fragen „Wem gehört die
Stadt? Und was bedeutet Wohnen?" und befragen dazu Architekt_Innen,
Städteplaner_Innen und Betroffene in den Metropolen Europas nach
menschengerechtem Wohnen.3 Der Freiburger Bauverein mit dem Namen „Wem gehört die
Stadt" setzt sich mit Privatisierung und Verdrängung aus Wohnraum
auseinander und will „(...)Alternativen zur üblichen Verdrängungsökonomie durch
Eigentumsbildung und/oder hochpreisige Mieten entwickeln und verwirklichen
(...)."4 In
Berlin gibt es im Sommer 2013 eine zweistündige Stadtführung unter dem Motto
„Wem gehört die Stadt?". Die nächtliche Tour „mit politischem
Unterton" soll die ambivalenten Nutzungsansprüche und Interessenskonflikte
verschiedener Akteure am Spreeufer rund um die Oberbaumbrücke beleuchten .
Zudem wird hinterfragt, wer das Recht hat über dieses begehrte Stück Berlin
entscheiden zu dürfen.5 Ende April 2013 fand, ebenfalls in Berlin, im Rahmen von
„7 Tage Architektur" eine Veranstaltungsund Diskussionsreihe zum Thema
„Wem gehört die Stadt" im orangelab CB.e, einem Veranstaltungsraum der als
„Experimentierfeld für künstlerische, kulturelle und soziale Projekte jenseits
kommerzieller Zwänge" vermarktet wird, statt. Thematisiert wurden die
architektonischen und städteplanerischen Ergebnisse der letzten Jahre sowie die
Rolle der Investoren.6 In
Hamburg gingen im März 2013 Menschen auf die Straße um gegen die Verdrängung
und rasant steigende Mieten in Wilhelmsburg, ausgelöst durch die zwei großen
Vorzeigeprojekte der Hamburger Stadtentwicklungspolitik „Internationale Bau
Ausstellung" (IBA) und „Internationale Gartenschau" (igs) zu
protestieren. Der Slogan der Aktivist_Innen „IBA? NigsDA! Für eine soziale und
selbstbestimmte Stadt" lässt erkennen, dass sich die Bürger_Innen
übergangen fühlen und ein größeres Mitbestimmungsrecht an der städtischen
Entwicklung einfordern.7
So unterschiedlich all diese Aktionen, Bewegungen und Initiativen
auch sind, sie haben eines gemein: sie fordern ein Mitspracherecht an der
Gestaltung der Stadt. Ein besonders heiß diskutiertes Thema der Aktivist_Innen
und Betroffenen sind steigende Mietpreise. Jedoch auch wenn erst beim Eingriff
in die Privatsphäre bemerkt wird, dass der Einzelne bei
Stadtentwicklungsprozessen oft kein Mitspracherecht hat, ist der Ursprung
dieser Entwicklung im öffentlichen Raum zu suchen. Die Ideologie öffentlicher
Räume impliziert, dass diese allen zugänglich sind. Inwiefern ist das jedoch
Realität? Wer wird von welchen Plätzen ausgeschlossen und welche Mechanismen
und Strukturen stehen dahinter?
Die vorliegende Arbeit stellt verschiedene soziologische,
stadtgeographische und kulturwissenschaftliche Ansätze zu Dominanzverhältnissen
und Ausgrenzungsstrategien im öffentlichen Raum vor. Ausgehend von den
vielfältigen Definitionen öffentlicher Räume, widmet sich der Hauptteil der
Arbeit den Mechanismen und Instrumenten, die zur Ausgrenzung von Individuen und
Gruppen im öffentlichen Raum führen. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf der
Frage, von wem diese Ausgrenzungsstrategien anwendet werden: vom Staat
(institutionell), der Wirtschaft (ökonomisch) oder aus der Gesellschaft heraus
(sozial). Der erste Teil befasst sich mit institutionellen Restriktionen.
Inwiefern tragen staatliche Institutionen dazu bei, eine bestimmte Weise
kategorisierte Menschen von öffentlichen Plätzen fern zu halten und welche
Rolle spielt die subjektive Wahrnehmung der „Ordnungshüter"?
Der zweite Teil dieser Arbeit widmet sich der Fragestellung nach
den Auswirkungen der Ökonomisierung öffentlicher Räume. Welche Formen nimmt
diese Kapitalisierung an und wie schlägt sich der Einfluss wirtschaftlicher
Interessen auf die Ausgrenzung an öffentlichen Räumen nieder?
Im dritten Teil dieser Arbeit werden Ausgrenzungsstrategien im
zwischenmenschlichen Umgang vorgestellt. Auch im öffentlichen Raum gelten
bestimmte Normen. Wer bestimmt diese Regeln, welche Verhaltensweisen verletzen
diesen Verhaltenskodex und durch welche Strategien wird sichergestellt, dass
die Ordnung beibehalten wird?
Diese interdisziplinäre Herangehensweise soll einen Überblick
über die zahlreichen Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte geben und
zusammenfassende Ergebnisse zu Ausgrenzungsstrategien im öffentlichen Raum
liefern.
2. Was ist öffentlicher Raum?
Bei der Frage „Wem gehört die Stadt?" ist die Betrachtung
des öffentlichen Raumes also besonders von Bedeutung, da er den sozialen und
politischen Kern des öffentlichen Lebens ausmacht. Wer aus dem öffentlichen
Leben einer Stadt ausgeschlossen wird, verliert nicht nur einen Ort der
Erholung und Entspannung, sondern wird vielmehr unmündig gemacht in Bezug auf
die Prozesse und Entwicklungen innerhalb seines städtischen Lebensraums.
Nach Webers Stadtbegriff ist das wichtigste Merkmal des
öffentlichen Raumes seine Funktion als Markt. Weber bezeichnet die Stadt dabei
als alle Ansiedlungen, in denen „die ortsansässige Bevölkerung einen ökonomisch
wesentlichen Teil ihres Alltagsbedarfs auf dem öffentlichen Markt befriedigt,
und zwar zu einem wesentlichen Teil durch Erzeugnisse, welche die ortsansässige
und die Bevölkerung des Umlandes für den Absatz auf dem Markt erzeugt oder
sonst erworben hat" (Weber 1921).
Bahrdt spinnt diesen Faden weiter und sieht in der Marktfunktion
den Ursprung von Öffentlichkeit, da die ständigen ökonomischen Beziehungen zu
Fremden, die mit Konsum einhergehen, das alltägliche soziale Verhalten der
Bewohner prägt. So ist die Basis für die Herausbildung anderer Formen von
Öffentlichkeit, wie beispielsweise einer politischen Öffentlichkeit, gegeben
(Bahrdt 2006).
Andere Konzepte betrachten öffentlichen Raum aus Sicht der
griechischen Agora und sehen sein wichtigstes Merkmal ganz abseits von Konsum
in der Möglichkeit zu Meinungsaustausch und Kommunikation (Arendt 1981). Er
repräsentiert die besonderen Qualitäten des urbanen Lebens und vermittelt
seinen Nutzer_Innen so ein bestimmtes Lebensgefühl. Öffentliche Räume sind die
Lebensader der Stadt und bieten den Stadtbewohner_Innen und Besucher_Innen Raum
zur Entfaltung. Sie können sehr unterschiedliche Formen annehmen. Sie sind die
Straßen, Gassen und Plätze einer Stadt. Sie umfassen Parkanlagen und Grünzüge
sowie den gesamten öffentlichen Personennahverkehr (sofern dieser in
öffentlicher Hand liegt und nicht privatisiert ist) aber auch öffentliche
Gebäude wie Kirchen und Verwaltungen. All diese Orte sind besonders und in
ihrer Funktion verschieden, so dass sie für die unterschiedlichsten sozialen
und wirtschaftlichen Aktivitäten genutzt werden können. Denn neben seiner
Erholungsfunktion umfasst der öffentliche Raum viele weitere Aufgaben wie
Verkehr, Repräsentation, Politik und Handel (Reiß-Schmidt 2003).
Siebel weist dem öffentlichen Raum vier grundlegende Funktionen zu, die ihn von der privaten Sphäre unterscheiden. Zunächst stellt er seine funktionale Bedeutung für die Entstehung und Mitwirkung an Politik sowie seine Funktion als Markt heraus, während der Bereich des Privaten für Produktion und Reproduktion zuständig ist. Diese politische und ökonomische Funktion befindet sich im Wandel, so findet Politik heute aufgrund von Globalisierung und der Herausbildung von Nationalstaaten auf nationaler, wenn nicht sogar internationaler Ebene statt. Statt politischer Demonstrationen wird der öffentliche Raum heute von Verkehr und Konsum eingenommen. Immer weniger Menschen „gehen auf die Straße", wobei der sprachliche Ausdruck alleine schon zeigt, wofür die Straße einmal stand: für politischen Widerstand und Protest. Durch eine zunehmende Technisierung hat sich politischer Aktivismus in der Bevölkerung in die virtuelle Welt, auf Blogs, Facebook und Foren im Internet verlagert. Auch die Marktfunktion der öffentlichen Räume wird durch das Internet abgeschwächt (ebd.). Zudem werden öffentliche Märkte seit Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend in Kaufhäuser und Einkaufspassagen verlagert und somit privatisiert. Ein Raum, welcher von Subjekten (wie den Eigentümern der Kaufhäuser) kontrolliert, gesteuert, geplant und erworben werden kann, hat mit einem öffentlichen Raum nach soziologischer Definition nichts mehr zu tun (Siebel 2004). Durch diese Tendenz zur Privatisierung hat sich auch die juristische Funktion öffentlicher Räume verändert. Räume, die früher unter öffentlichem Recht standen, unterliegen heute häufig dem privaten Hausrecht der Eigentümer.
Eine besonders wichtige Stellung nimmt der öffentliche Raum im
Bereich des Sozialen ein. Öffentliche Räume dienen als Bühne zur
Selbstdarstellung, auf welcher sich das Individuum durch seine Anonymität
ständig neu erfinden und von seinen Verpflichtungen im Privaten erholen kann.
Darüber hinaus trägt öffentlicher Raum maßgeblich zur Aneignung sozialer
Kompetenzen bei, da das Individuum in ständiger Interaktion mit Fremden steht
(ebd.).
Überdies dienen öffentliche Räume als das kollektive Gedächtnis
der Stadtbewohner_Innen (ReißSchmidt 2003). In ihm überlagern sich Geschichte
und Gegenwart, hier sind die Spannung gesellschaftlicher Umbrüche und
Veränderungen spürbar. Sie unterliegen (theoretisch) nicht der Herrschaft eines
oder weniger Einzelner, sondern können von jedem/r Nutzer_In mitgestaltet
werden. Diese Tatsache macht öffentliche Räume zu mehrdeutigen, ambivalenten
Räumen. Robert Musil nennt sie Möglichkeitsräume, da sie offen für Umdeutungen
und Aneignungen sind. Ihre Deutung wird durch eine Vielzahl von Akteuren
festgelegt, die weder vollständige Informationen über den Raum besitzen können
noch über ausreichend Mittel verfügen um sich den Platz allein zu Eigen zu
machen. Dabei verfolgen die Akteure unterschiedliche, meist sogar
widersprüchliche Ziele. Ein Raum, der zudem ein Stück Geschichte im Stadtraum
repräsentiert, stärkt laut Musil den Möglichkeitssinn, da er den Nutzer_Innen
des Raums vor Augen hält, dass die heutige städtische Realität nur eine von
vielen Deutungsmöglichkeiten von Stadt ist (Siebel 2004).
Der öffentliche Raum ist also sowohl sozialer als auch
politischer Raum, dient als kollektives Gedächtnis der Stadt, stiftet Identität
und Orientierung, bietet seinen Nutzer_Innen eine Bühne zur Selbstdarstellung,
ist offen für unterschiedlichste Nutzungen und Lebensweisen und vernetzt
wichtigen Infrastruktur miteinander. Letztendlich ist der öffentliche Raum aber
auch die Grundlage zur Entwicklung politischen Handelns und so verantwortlich
für das Wohlergehen derjenigen, die diesen Lebensraum bewohnen (Lofland 1989).
Er lebt von der individuellen Aneignung durch seine Nutzer_Innen. Deshalb ist
öffentlicher Raum „immer auch umkämpfter Raum, in dem wechselnde Kräfte und
Gruppen ihre jeweiligen Hegemonialansprüche durchzusetzen und auch symbolisch
zum Ausdruck zu bringen" versuchen (Bernhardt et al. 2005: 240). Dabei
wird er zur „Bühne für den offenen Kampf um Legitimation" (Paloscia
2004:79). In diesem Kampf gibt es viele verschiedene Parteien, die bewusst und
auch unbewusst Strategien und Instrumente anwenden, um ihre Interessen im
öffentlichen Raum zu wahren. Wie effektiv und legitimiert diese Strategien
angewendet werden können, hängt von der Positionierung der involvierten
Individuen / der Gruppe innerhalb vorherrschender Macht- und
Dominanzverhältnisse ab. Der folgende Teil gibt einen Überblick über die
institutionellen, ökonomischen und sozialen Ausgrenzungsstrategien, die zu
einer Verdrängung aus dem öffentlichen Raum führen.
3. Ausgrenzungsstrategien im öffentlichen
Raum
3.1 Institutionelle Ausgrenzung
Der Staat hat vielfältige Handlungsmöglichkeiten, wenn es um
Ausgrenzung aus öffentlichen Räumen geht. Als verwaltende Instanz, legt er
Regeln und Verbote fest, an die sich alle Raumteilnehmer_Innen zu halten haben.
Um die Einhaltung dieses Regelwerks zu gewährleisten, bedient sich der Staat
unterschiedlicher Instrumente, welche im Folgenden diskutiert werden sollen.
3.1.1 INSTITUTIONALISIERTE
SOZIALKONTROLLE
Im Wörterbuch der Soziologie wird soziale Kontrolle definiert
als „die Gesamtheit aller sozialen Prozesse und Strukturen, die abweichendes
Verhalten der Mitglieder einer Gesellschaft [...] verhindern oder
einschränken" (Hartfiel 1972:355) oder auch als „jene Prozesse und
Mechanismen, mit deren Hilfe eine Gesellschaft versucht, ihre Mitglieder zu
Verhaltensweisen zu bringen, die im Rahmen dieser Gesellschaft positiv bewertet
werden. Dies geschieht durch innere und äußere Kontrolle." (Fuchs-Heinritz
1994: 368). Damit umfasst sie Prozesse der Sozialisierung, der Interaktion
sowie der Institutionalisierung, die zur Herstellung oder Vermeidung devianten
Verhaltens beitragen (Peters 1995). Soziale Kontrolle ist „Bestandteil der
Mechanismen der Herstellung gesellschaftlicher Ordnung, der Regeln, nach denen
sich die Menschen verhalten, eingebaut in Gruppenprozesse, Bestandteil von
Institutionalisierung und Interaktion" (ebd.: 130), wobei Kontrolle eine
„gezielt intendierte Beobachtung auf eine eventuelle Differenz von Soll- und
Ist-Wert" (Nogala 2000: 126) ist. Sie ist also eine Beobachtung, die dazu
dient, Verhalten außerhalb des gesellschaftlich anerkannten Normalbereichs zu
erkennen und die so eine präventive und reaktive Intervention möglich macht.
Es gibt verschiedene Arten Sozialkontrolle auszuüben. Sie kann
entweder formell durch Maßnahmen der Polizei oder Sozialarbeitern aber auch
informell durch das Intervenieren von Eltern oder Freunden ausgeübt werden.
Dabei muss hinterfragt werden, wer in der Machtposition steht,
Sanktionierungsmaßnahmen durchzuführen. Die vom „sozialen Kontrolleur"
geforderte Norm ist bestenfalls mehrheitsgesellschaftlich anerkannt, so dass
dieser seine Maßnahmen rechtfertigen kann (Peters 1995). Soziale Kontrolle kann
sowohl durch negative als auch positive Sanktionen ausgeführt werden. Die
negativen Sanktionen zielen darauf, den Sanktionierten abzuwerten oder dessen
Teilhabe am sozialen Leben zu verringern. Eine restriktive Sanktionierung soll
eine abschreckende, resozialisierende oder Konformität stabilisierende Wirkung
bei sowohl devianten als auch vorbeugend bei (noch) nicht-devianten Personen
erzielen (Dollinger und Raithel 2006). Es gibt aber auch Sanktionen, die als
Hilfestellung ausgeführt werden, da der Gedanke zu Grunde liegt, es gehe einem
devianten Individuum besser, wenn es sich in die Konformität einfüge (Peters
1995).
Mit sozialer Kontrolle sollen „soziale Probleme" beseitigt
werden. Ein solches Problem muss erst explizit im Rahmen aktueller kultureller
Konventionen definiert werden um als solches wahrgenommen zu werden. Dieser
Definitionsprozess ist stark verknüpft mit den vorherrschenden Dominanz- und
Machtverhältnissen. Diese bestimmen, wer die Definitionsmacht von Norm und
Devianz ausüben darf. Meist wird eine Problematik vorerst regelmäßig in
Diskursen medialer Berichterstattung und politischer Diskussionen verhandelt
bevor es sich in der alltäglichen Kommunikation verankert. Erst dann wird das
Problem auch allgemein als solches anerkannt. Sobald großflächige Einstimmigkeit
über „ein Problem" erreicht wurde, wird dessen Bearbeitung
institutionalisiert und durch Instanzen sozialer Kontrolle reguliert (Dollinger
und Raithel 2006).
Das Akteursgeflecht zur Umsetzung der staatlichen Instrumente
zur sozialen Kontrolle ist komplex. Polizeibeamte, Mitarbeiter_Innen des
Ordnungsamtes, Einheiten des Bundesgrenzschutzes, Mitarbeiter des
Rauschgiftdezernats in Zivil, private Sicherheitsdienste, Mitarbeiter_Innen der
städtischen Verkehrsbetriebe sowie der Deutschen Bahn AG arbeiten zusammen
(Lindner 1999).
Die Formen der sozialen Kontrolle haben sich durch die
veränderten sozialen und ökonomischen Strukturen des Kapitalismus und Fordismus
gewandelt. Ziel der Sozialkontrolle war in der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts die Verinnerlichung der Anforderungen der fordistischen Arbeits-
und Lebenswelt und damit auch die äußerliche Anpassung an ein festgelegtes
Sammelsurium an Werten und Normen. Der Anspruch an die Sozialkontrolle bestand
bislang darin, deviante Personen durch Hilfsangebote zur Resozialisierung und
Reintegration zu unterstützen. Die Gründe für von der Norm abweichendes
Verhalten und Delinquenz wurde nicht mehr nur allein im Individuum selbst
gesucht, es wurde auch davon ausgegangen, dass mangelnde Integrationsmöglichkeiten
gegeben sind, die durch persönliche oder sozialstrukturelle Defizite entstanden
sind. Devianz wurde mit "Fürsorge" begegnet, da kollektive
Sicherungssysteme das persönliche oder sozialstrukturelle Defizit ausgleichen
sollten. Somit waren die mit Sozialkontrolle beauftragten privaten und
öffentlichen Institutionen hauptsächlich auf Integration ausgerichtet (Veil
2008; Singelnstein und Stolle 2012). Der Sicherheitsdiskurs hat sich jedoch in
Politik, Medien und der gesamten Gesellschaft innerhalb der letzten Jahre
gewandelt. Der Diskurs über mögliche Bedrohungen hat eine Realität konstruiert,
die das Sicherheits- und Strafbedürfnis innerhalb der Gesellschaft verändert
und somit auch das Bild von sozialer Kontrolle in den letzten Jahrzehnten stark
gewandelt hat. Neben einer immer stärkeren Ordnungsfunktion, also dem
nicht-Sichtbarmachen von Devianz, hat soziale Kontrolle heute immer mehr die
Aufgabe, Risiken offen zu legen und zu umgehen. „Damit werden gerade
Ausdrucksformen des Lebensstils der Unterschicht sowie zunehmende Formen
sozialen Protests auf der Straße wieder verstärkt zum Gegenstand sozialer
Kontrolle." (Singelnstein und Stolle 2012: 36). Es werden
„Risikoträger" identifiziert, gegen die es sich abzusichern gilt. Im
Gegensatz zur Resozialisierungsgedanken steht heute das „gefährliche
Fremde" im Mittelpunkt der sozialen Kontrolle und damit nicht mehr
einzelne „anormale" Individuen sondern eine „abstrakte, diffuse und als
bedrohlich empfundene Gesamtentwicklung" (ebd.: 36).
3.1.2 ÖFFENTLICHE SICHERHEIT UND
ORDNUNG
Im öffentlichen Raum herrscht ein allgemeiner und auch durchaus
legitimer Wunsch nach Sicherheit und nicht störenden Verhaltensweisen. Deshalb
werden Innenstädte durch Stadtreinigungsfirmen gesäubert, von unerwünschten
Personen freigehalten, verkehrsberuhigt und es werden Schilder mit Verboten und
Regeln angebracht, an welche sich Nutzer_Innen zu halten haben (Siebel 2004).
Damit wird die Deutungsmöglichkeit als eine der wichtigsten
Qualitäten eines öffentlichen Raums erheblich eingeschränkt. Die Verbote werden
gemeinhin von kommunalen Verwaltungen festgelegt oder aber von
Förderrichtlinien des Bundes und der Länder. Eine Behörde, die erheblich in die
Nutzung öffentlicher Räume eingreifen darf, ist beispielsweise die
Denkmalschutzbehörde sowie das Bauamt.
Durch die zunehmende soziale Polarisierung wird der öffentliche
Raum Schauplatz für gewaltsame Konflikte, Kriminalität und darauf reagierende
staatliche Gewalt. Dies führt zum Ausschluss bestimmter Nutzungen und
Nutzer_Innen, welche aus Schutz privatisierte Räume vorziehen oder aber
vorsorglich zur Wahrung der Sicherheit ausgeschlossen werden (Reiß-Schmidt
2003). Kriminalität und Devianz werden von institutioneller Seite oft durch die
klassische law-and-order Taktik zu beseitigen versucht. Grundgedanke ist dabei,
durch repressive Maßnahmen Unangepasstheit aus dem öffentlichen Raum zu
verdrängen (Benkel 2010). Seit der zweiten Hälfte der 1990er hat sich die
europaweite Debatte um „öffentliche Sicherheit und Ordnung" verschärft. Wo
es vorher keine Rechtsgrundlage für die Vertreibung unerwünschter Menschen aus
dem Stadtbild gab, wurden in den 1990er Jahren Neufassungen und Erweiterungen
der einschlägigen Landesgesetzgebung und damit der kommunalen Satzungen und
Verordnungen veranlasst, um solche Maßnahmen rechtlich zu legitimieren. Durch
Sondernutzungssatzungen und Gefahrenabwehrverordnungen wird der öffentliche
Raum von den Verantwortlichen in den Kommunen reguliert und kontrolliert und
somit bestimmte Gruppen oder Einzelpersonen aus dem öffentlichen Leben
vertrieben. Straßensatzungen legen fest, welche Verhaltensweisen unerlaubte
Sondernutzungen der Straßen- und Verkehrsflächen darstellen. Diese umfassen im
Wesentlichen das Herumsitzen oder -stehen um Alkohol zu trinken, das
Übernachten im öffentlichen Raum, betteln, Konsum oder Verkauf illegaler
Substanzen sowie das Verrichten der Notdurft in der Öffentlichkeit. All diese
Verbote betreffen vor allem sozial wie ökonomisch schwache Randgruppen. Meist
wird bei Nichteinhaltung dieser Verbote ein Bußgeld verhängt.
Gefahrenabwehrverordnungen sind hingegen rechtliche Absicherungen für Polizei
und andere „Ordnungshüter" um abstrakte Gefahren präventiv abzuwehren. Zu
diesem Zweck kann sich die Polizei auch auf Allgemein- und Einzelverfügungen
berufen, die Aufenthaltsverbote (gegen Einzelpersonen) und Platzverweise (gegen
eine unbestimmte Menge bestimmter Personen wie „Bettler") ermöglichen
(KAGS und KAGW 2002). Mustersatzungen und -verordnungen werden von zuständigen
Ministerien und kommunalen Dachorganisationen so an die aktuelle Rechtsprechung
angepasst, dass sie sich so nah wie möglich an der Grenze des rechtlich noch
Zulässigen bewegen. So sollen möglichst viele ordnungspolitische Instrumente
erhalten bleiben. Straßensatzungen werden verschärft, die Gefahrenabwehrverordnung
wird rigider gehandhabt und Akteure zur Umsetzung von Sicherheit zeigen mehr
Präsenz. Unterdessen wird ständiger Druck auf die sozialen Randgruppen
ausgeübt. Dabei sind einige dieser Straßensatzungen und
Gefahrenabwehrverordnungen rechtswidrig, wie beispielsweise das generelle
Bettelverbot. Auch kommt es in Einzelfällen immer wieder zu Verletzungen der
Grundrechte durch Übergriffe und unrechtmäßige Platzverweise aufgrund optischer
Merkmale der Betroffenen (Titus 2001).
Kriminalität im öffentlichen Raum wird als besonders wichtiges,
weil allgegenwärtiges Problem verhandelt, welches es unbedingt einzudämmen
gilt. Von dieser übergeordneten, zu lösenden Problematik aus wird von
institutioneller Seite versucht, andere, nicht eindeutig kriminelle
Verhaltensweisen, in direkten Zusammenhang mit Kriminalität zu bringen und so
eine entsprechende Sanktionierung zu rechtfertigen. So werden also gewisse
Verhaltensweisen kriminalisiert, um unter gesellschaftlicher Legitimation gegen
sie vorgehen zu können (Dollinger und Raithel 2006). Polizei und Gesetzgeber
haben eine privilegierte Stellung was die Darstellung von Problemen und Risiken
betrifft. Durch Berichte sowie bewusste wie unbewusste Falsch- und
Desinformationen können sie eine öffentliche Stimmung erzeugen, um rigoroses
Eingreifen und, grundlegender, überhaupt erst die Notwendigkeit einzugreifen,
zu rechtfertigen. Dabei ist die Polizei vom Gesetzgeber insoweit geschützt,
dass jegliche Auflehnung unter Strafe steht. Dies wird durch § 113 des Strafgesetzbuches
garantiert, welcher im Jahr 2010 noch verschärft wurde. So kann Folgsamkeit
erzwungen und Gewaltanwendung der staatlichen Exekutive legitimiert werden.
Zudem erhält die Polizei durch § 113 die alleinige Definitionsmacht darüber,
welche Handlungen als Widerstandshandlungen gelten (Singelnstein und Stolle
2012).
In zunehmendem Maße wird dabei Armut kriminalisiert. Menschen,
die sich äußerlich nicht in das erwünschte, solvente Konsument_Innenbild
einfügen, werden präventiv als „Gefahrenquelle" und „Störfaktor" von
öffentlichen Plätzen vertrieben. Es ist nicht mehr nötig eine Straftat zu
begehen, die rein subjektive und vorurteilsbehaftete Einschätzung der Polizei
oder eines Sicherheitsdienstes genügt, um den Ausschluss von einzelnen Personen
oder Gruppen zu legitimieren. So ist nicht mehr Kriminalität die Begründung für
exkludierende Interventionen sondern verwaschene, dehnbare Begriffe wie
Unordnung, Störung oder „soziale Verwahrlosung" des öffentlichen Raumes.
Dieses Verständnis hat die Kriminalisierung von vormals nicht als kriminell
verhandelten Handlungen zur Folge, wie betteln oder Alkohol trinken in der
Öffentlichkeit (KAGS und KAGW 2002).
Zusätzlich wird eine Legitimation solcher Maßnahmen durch stark
ideologische Debatten über Kriminalprävention und Terrorismus untermauert.
Kriminalitäts- und Sicherheitsdiskurse in den Kommunen schüren Ängste und
Vorurteile innerhalb der Bevölkerung und legitimieren so Vertreibungsmaßnahmen.
Dieses Konzept von öffentlicher Sicherheit zielt maßgeblich auf eine zunehmende
soziale Kontrolle der Teilnehmer_Innen am Stadtleben ab und verbindet
Sozialarbeit, Sozialpolitik, Stadtplanung sowie ordnungspolitische, polizei-
und strafrechtliche Maßnahmen miteinander. Gerade soziale Arbeitsfelder werden
dabei nicht selten für ordnungspolitische Aufgaben instrumentalisiert. Diese
dienen dem politischen Willen, verschiedene, meist zu den Zielgruppen
sozialer Arbeit gehörende, Personengruppen aus dem öffentlichen Raum
auszugrenzen (Simon 2007). Die Verwehrung des uneingeschränkten Zugangs zu
öffentlichen Räumen für unerwünschte Personen entspricht einer Einschränkung
der Grundrechte (insbesondere der Artikel 2 Abs. 1 und des Artikels 11 GG),
welche durch den vorherrschenden Sicherheitsdiskurs legitimiert wird. Die „[erhöhte]
Gefahr für die öffentliche Sicherheit und für die Sicherheit des einzelnen
Bürgers" konnte bislang jedoch nicht kriminologisch belegt werden (Simon
2001: 86). Die Frage, ob es tatsächlich reale Störungen oder Gefahrenpotenzial
für Teilnehmer_Innen in gewissen Räumen gibt, steht oft nicht im Vordergrund.
Je krimineller eine Gegend oder ein Platz eingeschätzt wird, desto stärker wird
dieser polizeilich kontrolliert. Dies ist aus einer „Erwartungserwartung"
(Benkel 2010: 43) heraus zu begründen. Die Polizei erwartet, dass die
Bevölkerung von der staatlichen Exekutive ein bestimmtes Auftreten in Räumen
mit dominant-deviantem Image erwartet. Offensichtlicher Devianz [Abweichung] soll durch
deutlich sichtbare Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen begegnet werden, um den
produktiven, braven „Normalbürgern" Sicherheit zu vermitteln. Das
schlechte, gefährliche Image eines Raums wird jedoch oftmals gerade durch
starke Polizeipräsenz immer wieder reproduziert, ohne, dass der Raum
tatsächlich eine Gefährdung darstellt (Benkel 2010).
Ein einwandfreies Image der Innenstädte ist jedoch wichtig um solvente Besucher_Innen und Bewohner_Innen anzuziehen und so ökonomischen Nutzen aus Ihnen zu ziehen. Aus diesem Grund wird Armut und Verhalten, das nicht an die ökonomischen wie sozialen Normen angepasst ist, aus dem Stadtbild der Innenstädte verbannt. Dieses Unsichtbarmachen der Auswirkungen von Armutsund Unterversorgungsproblemen hat gesamtgesellschaftliche Konsequenzen. Sucht- und Armutsprobleme werden von der Öffentlichkeit in die private Sphäre verschoben, was Folgen für andere gesellschaftliche Gruppen, soziale Sicherungssysteme und andere Sozialräume nach sich zieht. Ordnungspolitische Instrumente dämmen Kriminalität nicht ein, sondern machen die Ursachen für Kriminalität vielmehr unsichtbar. Es ist zudem davon auszugehen, dass aus Not resultierende Beschaffungskriminalität zunimmt (bspw. aufgrund von Bettelverboten etc.). Auffällig ist, dass nur bestimmte Gruppen betroffen sind und konsequent nur in den für den konsumierenden, die Ökonomie fördernden Kunden attraktiven Einkaufszeiten umgesetzt werden (Simon 2001). Dieser Umgang mit Armut führt nicht nur zu Intoleranz im öffentlichen Raum, sondern auch zu einem Paradigma der Armutsbekämpfung, welches davon ausgeht, dass Arme eine feste Struktur benötigen, deren Durchsetzung dem Staat obliegt. Anstatt Bildungs-, Qualifikations- und Einkommensdefizite durch Hilfe und strukturelle Gleichberechtigung auszugleichen, werden Menschen unter der Androhung von sozialer Ausgrenzung und juristischen Konsequenzen Verpflichtungen angeordnet (Simon 2007). Den Betroffenen wird durch ihre Vertreibung der Kontakt zu bestehenden Hilfesystemen genommen. Zudem werden die Probleme von der Bevölkerung weniger wahrgenommen, so dass ehrenamtliche Hilfe und Solidarität innerhalb der Bevölkerung zurück geht (KAGS und KAGW 2002). Die Exklusion devianter Personen wie beispielsweise Obdachlosen, kann in Form von „Ausgrenzung von Personen aus dem Kreislauf der Verteilung, Reproduktion und Weitergabe sozialer und wirtschaftlicher Güter" (Benkel 2010: 57) stattfinden. Dabei werden betroffene Menschen ausgegrenzt und deklassiert, ein sogenannter „sozialer Aufstieg" ist von diesem Punkt aus schwer zu erreichen.
[...]
1 http://www.muenchner-stadtmuseum.de/sonderausstellungen/wem-gehoert-die-stadt.html
2 http://www.wemgehoertdiestadt.de/
3 http://www.thewoundedbrickfilm.com/
4 http://www.wemgehoertdiestadt.org/
5 http://www.stattreisenberlin.de/berlin/alle-stadtfuehrungen/stadtfuehrung/tour/160-wem-gehoert-die-
stadt/
6 http://www.cbe.de/news/14583
7 http://ibanigsda.org/2013/03/23/vor-der-iba-eroffnung-wem-gehort-die-stadt/