DESTATIS
Wie tödlich ist das Coronavirus Sars-CoV-2 wirklich? Und wie gefährlich ist die aktuelle Pandemie im Vergleich zu anderen Infektionskrankheiten? Destatis sprach darüber mit Dr. Felix zur Nieden, Experte für Demografie und Sterbefallzahlen im Statistischen Bundesamt.
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Sie haben es angesprochen: Das öffentliche, politische und auch wissenschaftliche Interesse an aktuellen Daten, die die Auswirkungen der Pandemie auf die Gesamtzahl der Sterbefälle quantifizieren, war und ist immens. Wie haben Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen darauf reagiert?
Die Sterbefallstatistik ist traditionell so aufgestellt, dass man da eine buchhalterische Genauigkeit pflegt, also sehr präzise Daten liefert. Da geht es nicht nur um die absoluten Sterbefallzahlen, sondern auch um wirklich exakte Werte zum Geburtsdatum des Verstorbenen, dem Sterbedatum und allen weiteren Merkmalen, die im Zuge der Statistik erhoben werden. Wir haben dann das System abgeklopft und überlegt, wie wir die Daten so schnell wie möglich bereitstellen können. Und wie wir dabei vielleicht auch einen unkonventionellen Weg gehen können, um die aktuell drängenden Fragen zu beantworten. Unsere Überlegung war dann, die Daten direkt am Dateneingang abzugreifen, bevor sie plausibilisiert werden. Vieles passt in diesen Daten schon, aber in einigen Fällen sind noch Korrekturen notwendig. Wenn ein Merkmal fehlt oder eine unplausible Kombination auftritt, zum Beispiel das Sterbedatum vor dem Geburtsdatum liegt. Oder wenn ein Zahlendreher in der Nummer für den Wohnort ist – all diese Aspekte. Normalerweise wird das alles in mühevoller Kleinarbeit von den Statistischen Landesämtern in Rücksprache mit den Standesämtern bereinigt – das meinen wir mit Plausibilisieren. Wenn man aber nun einen direkten Überblick zu den Gesamtsterbefallzahlen bekommen möchte, also die drängendste Frage beantworten möchte: Wie stark schlägt Corona durch? – dann kann man mit diesen noch nicht plausibilisierten Rohdaten schon arbeiten. Seitdem veröffentlichen wir jede Woche unsere Sonderauswertung zu den Sterbefallzahlen inklusive aller Nachmeldungen, die im Laufe der Woche eingetroffen sind.
Sprechen wir einmal über die Ergebnisse aus dieser Sonderauswertung: Wie hat sich die Corona-Pandemie auf die Sterbefallzahlen ausgewirkt?
Effekte haben wir ab der letzten Märzwoche im Jahr 2020 gesehen und dann den ganzen April über: Da hatten wir deutlich erhöhte Sterbefallzahlen. Wenn man den April für sich betrachtet, so waren die Sterbefallzahlen 10 Prozent über dem Durchschnitt der Vorjahre. Diese Differenz zum Durchschnitt der Vorjahre passt sehr genau zu den gemeldeten COVID-19-Todesfällen beim RKI. Oberflächlich betrachtet lässt sich daraus schließen, dass andere Erklärungen für diese Erhöhung nur eine untergeordnete Rolle spielen können. Wenn man nochmal ein bisschen genauer in die Daten guckt, haben wir zwei auffällige Befunde. Zum einen war das Phänomen der Übersterblichkeit regional sehr stark fokussiert: Es ist vor allem in Bayern und in Baden-Württemberg aufgetreten. Andere Länder sind kaum beziehungsweise gar nicht betroffen gewesen. Wenn man sich das Ganze altersspezifisch anschaut, dann sind es vor allem die über 80-Jährigen, die davon betroffen waren. Dort lagen die Zahlen teilweise 20 Prozent über dem Vorjahres-Durchschnitt. Man muss allerdings berücksichtigen, dass mittlerweile mehr über 80-Jährige in Deutschland leben als in den letzten Jahren. Wenn man die Sterbefälle ins Verhältnis zur Bevölkerung setzt, ergeben sich immer noch erhöhte Sterberaten von 10 Prozent für diese Altersgruppe – und das trotz der Maßnahmen, die ergriffen wurden, um das Infektionsgeschehen so weit wie möglich einzudämmen.
Sie veröffentlichen also vorläufige Zahlen und Sie veröffentlichen sie früher als sonst, um das öffentliche Bedürfnis nach Aktualität zu befriedigen. Wie aussagekräftig sind diese Daten, etwa in Bezug auf Vollständigkeit?
Wir haben ja zuvor schon vorläufige Zahlen veröffentlicht, allerdings dann schon plausibilisiert und mit einem Verzug von etwa zweieinhalb Monaten. Auch da musste man noch in einem ganz geringen Umfang mit Nachmeldungen rechnen. Auch an den nicht plausibilisierten Daten kann man meines Erachtens schon vieles ablesen. Die größte Einschränkung ist tatsächlich die fehlende Vollständigkeit und vor allem auch, dass diese regional unterschiedlich ist. Wir veröffentlichen nun Daten, die einen Abstand von vier Wochen zum eigentlichen Sterbefallgeschehen haben. In einem Bundesland können die Daten dann schon nahezu vollständig sein, in einem anderen Bundesland fehlen dann noch mehr als 15 Prozent der Daten. Das heißt, am ganz aktuellen Rand kann man die regionale Entwicklung noch nicht abschließend beurteilen.
Für die Festlegung der Basismortalität als Bezugsgröße für die Messung von Übersterblichkeit ziehen Sie nur die vergangenen vier Jahre heran. Warum nicht einen längeren Zeitraum?
Unser Ziel ist es, die absoluten Sterbefallzahlen mit diesem Durchschnittsvergleich einzuordnen. Aber die Sterbefallzahlen hängen nicht nur von der Sterblichkeit und dem aktuellen Sterbegeschehen ab, sondern auch von der Größe und Altersstruktur der Bevölkerung. Ganz vereinfacht gesagt: Mehr Ältere, mehr Sterbefälle. Mittel- und langfristig ändert sich aber die Altersstruktur so stark, dass ein Vergleich mit den absoluten Zahlen irgendwann keinen Sinn mehr ergibt. Das ist nicht von Woche zu Woche der Fall, aber über mehrere Jahre betrachtet haben wir da schon starke Effekte. Selbst in diesem Vier-Jahres-Zeitraum muss man beachten, dass es Altersstruktur-Effekte gibt. Beispielsweise hat die Altersgruppe der über 80-Jährigen von 2016 bis 2019 um 15 Prozent zugenommen – von 4,9 auf 5,7 Millionen. Das muss man natürlich berücksichtigen. Auf der anderen Seite kann man nicht einfach einen Vergleich mit einem Vorjahr ziehen, weil die Auswirkungen von Grippewellen und Hitzewellen in jedem Jahr leicht unterschiedlich sind. Wenn wir nun einen Vier-Jahres-Zeitraum wählen, so ist das ein Kompromiss zwischen diesen beiden Aspekten: Wir berücksichtigen einerseits die Varianz in den Daten, die es zwischen den Jahren auch ohne Corona gibt. Auf der anderen Seite lassen wir die Altersstruktur-Effekte, die ich angesprochen habe, nicht zu stark werden.
Das ganze Interview (Podcast) können Sie hier lesen/hören (Quelle)